Die Erwartungen der Pflegebranche an Digitalisierung sind hoch und werden täglich geschürt

16.09.2020
Staatssekretär Andreas Westerfellhaus, Bevollmächtigter der Bundesregierung für Pflege, im Gespräch mit Thomas Möller, bvitg-Referent Politik.

Bild: © Pflegebevollmächtigter, Fotograf Holger Gross

Sehr geehrter Herr Staatssekretär, in Ihrem Fünf-Punkte-Plan „Mehr PflegeKRAFT 2.0“, den Sie vor dem Hintergrund der Corona-Krise überarbeitet haben, fordern Sie unter anderem, dass die „Möglichkeiten der Digitalisierung endlich auch in der Pflege nutzbar gemacht werden“ sollen. Was bedeutet das aus Ihrer Sicht konkret?

Vor allem in der Langzeitpflege ist von Digitalisierung leider häufig noch zu wenig zu spüren. Wir sollten mit digitaler Hilfe noch viel stärker Pflegekräfte von Dokumentations- und Antragsaufwand entlasten. Pflegekräfte wollen und sollen ihre Zeit nicht mit unnötigem Papierkram verbringen, sondern mit der Pflege der Menschen. Zum Beispiel wollen sie Pflegeberichte per Tablet erstellen und Pflegeleistungen elektronisch abrechnen. Ich höre von ambulanten Trägern, die alle Prozesse durchdigitalisiert haben, aber für die Abrechnung mit den Krankenkassen 300 Seiten ausdrucken und per Post verschicken müssen. Das sind Brüche, die Zeit rauben, welche am Ende bei der Patientenversorgung fehlt. Außerdem müssen Pflegekräfte in die elektronische Patientenakte schauen können, um aktuelle versorgungsrelevante Daten zu haben über Behandlung, Medikation und Krankenhausgeschichte. Für Pflegebedürftige in der ambulanten Pflege brauchen wir mehr digitale Assistenzsysteme, die ein selbständiges Leben in den eigenen vier Wänden möglich machen, beispielsweise Sturzerkennungssysteme oder smarte Haustechnik für Notrufe.

Viele Pflegekräfte blicken noch relativ skeptisch auf das Thema Digitalisierung. Wie kann diese Skepsis überwunden werden und welchen Beitrag kann die Industrie in diesem Kontext leisten?

Wir brauchen ganz einfach sinnvolle Anwendungen, die Pflegekräfte und Pflegebedürftige überzeugen. Hersteller sollten Pflegekräfte schon bei der Entwicklung und Erprobung ihrer Anwendungen einbeziehen, um Produkte praxistauglich zu machen. Und wir sollten aufpassen, nicht die gleichen Fehler wie bei Ärzten und Krankenhäusern zu wiederholen. Die Erwartungen der Pflegebranche an Digitalisierung sind hoch und werden täglich geschürt. Wenn Interesse nicht in Ablehnung und Genervtsein umschlagen soll, dann brauchen wir jetzt zeitnah überzeugende Anwendungen in der Fläche, die zeigen, dass Digitalisierung ankommt.

Als Grundvoraussetzung gehört dazu eine schnelle flächendeckende Anbindung von Pflegeeinrichtungen an die Telematik-Infrastruktur. Jedoch überlässt das Patientendaten-Schutz-Gesetz die Ausgabe der erforderlichen Karten komplett den Bundesländern, obwohl der Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren um alternative Ausgabeverfahren gebeten hatte. Wir müssen daher den Aufbau des elektronischen Gesundheitsberuferegisters genau beobachten, damit die Digitalisierung der Pflege nicht an der fehlenden Ausgabe von Smartcards scheitert.

Damit die Digitalisierung der Pflege ein Erfolg wird, bedarf es der Akzeptanz der Anwender, also v.a. der Pflegenden bzw. von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen. Notwendige Bedingung hierfür ist zumindest ein gewisses Maß an digitaler Kompetenz. Welche Möglichkeiten gibt es aus Ihrer Sicht, solche Kompetenzen bei allen Beteiligten zu stärken und somit die Akzeptanz der Digitalisierung zu fördern?

In den Lehrplänen der neuen Pflegeberufeausbildung ist die Kompetenz für digitale Prozesse und Hilfssysteme ausdrücklich als Ausbildungsziel aufgenommen worden. Das ist wichtig, denn auch junge Menschen, die täglich in sozialen Medien unterwegs sind, müssen lernen, wie man mit komplexen digitalen Assistenzsystemen umgeht. Entscheidend wird aber sein, dass Assistenzsysteme benutzerfreundlich auf die Zielgruppen zugeschnitten werden. Einen 80jährigen Pflegebedürftigen können Sie nicht nach mehreren Passwörtern oder Smartcards fragen und zusätzlich mit Captcha-Bildern überfordern. Eine intuitive Menüführung ist eine hohe Kunst, die Hersteller beherrschen müssen, wenn sie Nutzer von ihren Produkten überzeugen wollen. Das gilt für Pflegekräfte genauso wie für Pflegebedürftige oder deren Angehörige. Hier ist die Industrie gefragt.

Im Patientendaten-Schutz-Gesetz (PDSG) sind einige Regelungen zur Digitalisierung der Pflege enthalten. Wie beurteilen Sie diese mit Blick auf das politische Ziel einer vernetzten Gesundheits- und Pflegeversorgung?

Ich glaube, dass wir mit dem PDSG einen Riesenschritt in Richtung Digitalisierung machen. Die Bürger werden ab Januar endlich etwas mit ihrer Gesundheitskarte anfangen können, nämlich selbstbestimmt ihre eigenen Gesundheitsdaten einsehen und verwalten können. Erfreulicherweise ist meine Bitte nach konkreten Anwendungen für die Pflege erhört worden. Pflegekräfte bekommen Zugriff auf sämtliche pflegerelevante Daten der elektronischen Patientenakte und sparen sich dadurch zeitaufwändige Nachfragen beim Arzt oder Krankenhaus. Und endlich werden alle Pflegeeinrichtungen sämtliche Leistungen in absehbarer Zeit elektronisch abrechnen können. Allein das ist ein spürbarer Nutzen, der in der Praxis nicht zu unterschätzen ist. Außerdem ist die Gematik beauftragt worden, die elektronische Verordnung von häuslicher Krankenpflege auf den Weg zu bringen. Das wird Pflegedienste erheblich von Papier- und Abstimmungsaufwand mit Hausärzten und Krankenkassen entlasten.

Im PDSG spielen auch Standards und Terminologien eine wichtige Rolle. Inwiefern besitzt dieses Thema aus Ihrer Sicht Relevanz für die pflegerische Versorgung?

Digitale Systeme müssen sich gegenseitig verstehen und die gleiche Sprache verwenden. Digitalisierung bringt nichts, wenn Pflegekräfte Daten aus dem Arztbrief händisch ins eigene System übertragen müssen oder der Arztbrief womöglich eine andere Bezeichnung für eine Therapiemaßnahme verwendet als ein Pflegebrief. Ich bin deshalb froh, dass wir im Patientendaten-Schutz-Gesetz die semantische und technische Interoperabilität sichergestellt haben und die Verbände der Pflege bei allen pflegerelevanten Fragen beteiligt werden. Richtig ist auch, dass das Bundesministerium für Gesundheit verbindliche Schnittstellen vorgeben kann, damit Hersteller Klarheit für ihre Produktentwicklung bekommen und wir keine künstlichen Sektorengrenzen zwischen Arztpraxis, Krankenhaus und Pflegeheim haben.

Wie beurteilen Sie das von DKG, ver.di und Deutschem Pflegerat vorgelegte Pflegepersonalbemessungsinstrument im Kontext der Digitalisierung?

Personalbemessung ist ein wichtiger Schlüssel, um die Versorgung auf hohem Niveau zu sichern, aber auch das Image der Pflege zu verbessern und Nachwuchs zu gewinnen. Die Personalausstattung eines Krankenhauses oder Pflegeheims darf sich nicht nach willkürlichen Schlüsseln oder ökonomischen Anreizen richten, sondern muss bedarfsgerecht sein. Deshalb stehe ich ganz klar für wissenschaftsbasierte Personalbemessungsinstrumente im Krankenhaus und in der Langzeitpflege. Bei der Einführung müssen natürlich auch Effekte der Digitalisierung berücksichtigt werden, und zwar nicht nur mögliche Zeitersparnisse, sondern vor allem auch Mehraufwand für Schulung und Anleitung. In der Langzeitpflege wollen wir das bei der Pilotierung der Personalbemessung ausprobieren.

Dieses Interview erschien zuerst in der Ausgabe 3 der Zeitschrift WIRKSAM