„Der öffentliche Gesundheitsdienst hat bisher wenig Digitalisierungsaufmerksamkeit erhalten“

21.06.2021
Theresa Willem und Dr. Tobias Opialla vom Innovationsverbund Öffentliche Gesundheit im Interview mit Valentin Willaredt, bvitg-Referent Presse & Kommunikation.

Fotos: links © Verena Willem, rechts: © Felix Petermann

Wie ist es aus Ihrer Sicht hierzulande um die Digitalisierung im öffentlichen Gesundheitsdienst bestellt?

Theresa Willem: (seufzt) …

Dr. Tobias Opialla: Um das zu bewerten, müssen wir anerkennen, dass das Gesundheitssystem hierzulande sehr komplex ist. Die vielen ineinandergreifenden Strukturen und Prozesse sind eine Herausforderung, auch aufgrund des föderalen Systems. Dabei können Föderalismus und Pluralismus gemeinsam für die notwendige Wendigkeit sorgen, besonders wenn es darum geht, wirkungsvoll auf Krisen zu reagieren. Allerdings verdichten sie die Komplexität ungemein und erschweren schlanke, digitale Ansätze. Die vielen analogen Abläufe aus der vergangenen Zeit sind jeweils auf die örtlichen Gesundheitsämter abgestimmt. Allerdings unterscheiden sich die Ämter nicht nur in ihrer Größe, ihrem Bevölkerungsvolumen und ihren Zuständigkeitsgebieten, sie unterstehen auch verschiedenen Ordnungen und Regelungen auf Bundes-, Landesund Kommunalebene. Trotzdem haben diese Prozesse funktioniert, obwohl sie – wie in vielen anderen Verwaltungseinrichtungen – (noch) analog ablaufen. Wir hören in Gesprächen oft: „Never change a running system.“

Theresa Willem: Die Corona-Krise hat die Defizite gnadenlos offengelegt. Einer solchen Herausforderung konnten die Strukturen kaum standhalten. Das mussten sie jedoch
vorher auch nicht. Der ÖGD hat bisher wenig Digitalisierungsaufmerksamkeit erhalten und hängt zurück. Die Überforderung ist eine klare Konsequenz. Dabei wurde deutlich, an welchen Stellen dringender Aufholbedarf besteht. Mit diesem Wissen gilt es jetzt die Digitalisierung im ÖGD zu forcieren – wegen und trotz der Krise.

Was muss sich in rechtlicher und technischer Hinsicht, aber auch mit Blick auf das Mindset aller Akteure ändern, damit künftig mehr Innovation Einzug halten kann?

Theresa Willem: Jedes Gesundheitsamt hat eigene Wege gefunden, mit den Herausforderungen der Krise umzugehen. Unter großem Druck wurde vielerorts schnell nach digitalen Lösungen gegriffen. Die IT-Branche hat sich auf den Sektor gestürzt und notwendige, aber nicht zwangsweise vielschichtige Innovationen hervorgebracht. Das ist bemerkenswert, aber um das Gesamtkonstrukt ÖGD sinnvoll und nachhaltig zu digitalisieren, müssen Prozesse zusammengeführt und ein Stück weit vereinheitlicht werden. Dazu braucht es Standards, interoperable Daten und deren Erfassung. Es muss ein Verständnis für das große Ganze geschaffen werden.

Dr. Tobias Opialla: Manche Neuerungen und Prozesse sind für einige Gesundheitsämter einzeln betrachtet nicht die naheliegendste Lösung, schaffen aber einen hohen Mehrwert für das Gesamtsystem ÖGD. Ein gutes Beispiel dafür ist der flächendeckende Einsatz des Infektionsmanagementsystems SORMAS. Ein kleines Gesundheitsamt in einem Kreis mit geringer Inzidenz mag mit einer einfachen Tabelle zurechtkommen, damit jedoch ein bundesweiter Datenaustausch zur schnellen Ermittlung von Infektionsketten gelingen kann, muss auch hier die Software eingeführt werden.

Wie wollen Sie mit dem Innovationsverbund Öffentliche Gesundheit einen Beitrag dazu leisten?

Dr. Tobias Opialla: Aufseiten der Gesundheitsämter fehlt oft ein Marktüberblick und die Kapazität, entsprechende Anbieter zu filtern, einzeln in der Tiefe zu durchdringen und Kompatibilitäten zu prüfen. Hier entlastet der Verbund. Das Angebot kann man sich als eine Art „Appstore für Gesundheitsämter“ vorstellen. Durch unsere Arbeit haben wir eine gute Markt- und Bedarfsübersicht. Wenn wir sehen, dass eine Innovation sinnvoll wäre, dafür aber keine entsprechende Lösung existiert, beginnen wir gemeinsam mit unseren Partnern mit der Entwicklung: IRIS – ein Gateway für Kontakt-Tracing-Daten – ist ein gutes Beispiel dafür. Bei all unseren Projekten legen wir Wert auf ein stabiles Wertegerüst, setzen auf Transparenz und suchen den Diskurs mit der Tech- und Open-Source-Community.

Theresa Willem: Als Zusammenschluss von Initiativen, die digitale Lösungen für den Öffentlichen Gesundheitsdienst bereitstellen, deckt der Verbund einen großen Innovationsbereich ab. Durch die koordinierte Zusammenarbeit können Gesundheitsämter einzelne Lösungen individuell kombinieren und zu Gesamtlösungen zusammenführen. Durch den Austausch zwischen den Projekten entstehen Anknüpfungspunkte und gegenseitige Unterstützung. Projekte, die ähnliche Ansätze und Konzepte verfolgen, bündeln Kräfte und legen Bemühungen zusammen. Außerdem sprechen wir regelmäßig mit Vertreter:innen aus dem ÖGD und der Politik, erkennen Bedarfe und spiegeln sie zurück in unsere Community.

Welche Rolle spielt in diesem Transformationsprozess die Gesundheits-IT-Branche?

Theresa Willem: Eine ganz entscheidende Rolle! Deshalb stehen wir mit vielen Akteur:innen der Branche im Austausch. Langfristig sollen sich die Innovationen des Verbunds hier etablieren. Dazu müssen nicht nur die Landschaft der Gesundheits-IT berücksichtigt und die Regularien mitgedacht, sondern aktiv mitgestaltet werden. Viele der Verbundinitiativen kommen aus dem Start-up-Bereich und haben schon Erfahrungen in dem hoch regulierten Sektor gesammelt. Mit diesem Wissen können sie ihre Innovationsvorhaben sinnvoll angehen. Bei uns – im InÖG – ist das übrigens auch so.