„Telemedizin bietet in vielen Bereichen echte Mehrwerte“

08.11.2021
Dr. Stephan Pitum-Weber, Head of Business Development bei Medgate Deutschland im Gespräch mit Constanze Pappert, bvitg-Referentin eHealth
Sie haben als Anbieter für telemedizinische Dienstleistungen in der Schweiz bereits 20 Jahre Erfahrungen sammeln können und planen nun die Expansion in den deutschen Kassenmarkt – warum gerade jetzt? 

Weil genau jetzt der richtige Zeitpunkt ist. Weltweit steht die Gesundheitsversorgung derzeit vor tiefgreifenden Veränderungen. Auslöser hierfür ist nicht allein die Digitalisierung von Versorgungsprozessen, sondern auch die Notwendigkeit, aufgrund der COVID-19-Pandemie digitale Wertschöpfungspotenziale ganzheitlich zu erschließen. Außerdem hat der Gesetzgeber nun die regulatorischen Voraussetzungen für die flächendeckende Einführung des E-Rezeptes geschaffen, als elementaren Bestandteil telemedizinischer Versorgung.

Wenn Sie die Rahmenbedingungen in der Schweiz mit denen hierzulande vergleichen, mit welchen Herausforderungen sehen sie sich als Telemedizin-Anbieter in Deutschland besonders konfrontiert?

Es gibt im europäischen Raum keine homogene Regulatorik des Gesundheitswesens. Das erklärt, warum in einigen Ländern elektronische Rezepte bereits Normalität sind, während hierzulande das E-Rezept der gematik für die GKV noch erprobt wird.

Die Studie ‚E-Health-Monitor 2020‘ der Unternehmensberatung McKinsey belegt, dass Deutschland in puncto Digitalisierung des Gesundheitswesens Nachholbedarf hat. So tauschen in Deutschland beispielsweise nur 44% der Gesundheitseinrichtungen klinische Daten digital aus. In der Schweiz sind es immerhin 67% und in Italien sogar 83%. Auch die ambulante Versorgung hinkt hinterher. Laut ‚Praxis Barometer Digitalisierung‘ der Kassenärztlichen Bundesvereinigung hatten 2019 60% der Arztpraxen keinerlei digitale Dienstleistungen im Angebot. Also noch nicht einmal Online Terminbuchung etc.. Diese digitale Enthaltsamkeit hat auch regulatorische Wurzeln.

Neben gesetzlichen Vorschriften und Regeln der Selbstverwaltung existieren in Deutschland komplexe berufsrechtliche Vorschriften. So untersagte die Musterberufsordnung noch bis in das Jahr 2018 (digitale) Fernbehandlungen. Die schließlich auf dem Ärztetag beschlossenen Lockerungen wurden dann sukzessive und in unterschiedlichem Tempo auf Länderebene adaptiert. Das deutsche Berufsrecht reguliert zudem, wie und wo Ärzt:innen ihren Beruf ausüben dürfen und schränken sie z. B. bei der Wahl ihres Arbeitgebers ein. Die Schweizer Regulatorik ist hier liberaler. Dort können sich Ärzt:innen auch bei einem telemedizinischen Unternehmen wie Medgate anstellen lassen, wenn sie dies wünschen.

Können Sie in Bezug auf die Bedürfnisse und Einstellungen der Patient:innen in der Schweiz und Deutschland gewisse kulturelle oder landesspezifische Unterschiede erkennen? 

Hier sehen wir keine gravierenden Unterschiede. Außer vielleicht, dass Patient:innen in der Schweiz gerne das Telefon für eine telemedizinische Konsultation nutzen, während in Deutschland Patient:innen klar die Medgate App präferieren. Patient:innen in ganz Europa führen mittlerweile einen digitalen Lebensstil und das Smartphone übernimmt immer mehr Funktionen. Eine Entwicklung, der sich das Gesundheitssystem und seine Leistungserbringer nicht verschließen können.

In welchen Anwendungsgebieten sehen Sie besonders große Nutzenpotenziale durch telemedizinische Lösungen?

Wir sehen sehr gute Möglichkeiten (kosten-)effizienter und zeitgleich qualitativ hochwertiger Behandlungsmöglichkeiten sowohl in der Akutmedizin als auch bei Chronikern. Telemedizin erlaubt hier eine engmaschige Betreuung, ohne dass zwingend eine Praxis aufgesucht werden muss. Auch Patient:innen mit Behinderungen profitieren durch den niedrigschwelligen Zugang zur Gesundheitsversorgung, welchen die Telemedizin bietet. Insofern ist Telemedizin ein wichtiger Baustein der Inklusion. Einen großen Nutzen sehen wir zudem für ländliche Flächenregionen; hier verschärfen sich bereits jetzt bestehende Versorgungsdefizite.

Telemedizin bietet damit in vielen Bereichen echte Mehrwerte für die Beteiligten im Gesundheitswesen, insbesondere für Patient:innen. Für eine qualitative Telemedizin ist allerdings eine umfangreiche telemedizinische Schulung der Ärzt:innen im Hinblick auf die besonderen Anforderungen der Telemedizin unverzichtbar. Der Nutzen der Telemedizin geht dabei weit über die Videosprechstunde hinaus. Die Steuerung des Patienten hin zum richtigen Provider und eine über die akute Problematik hinausgehende Versorgung eröffnen die wesentlichen Potenziale.

Wenn Sie sich speziell in Bezug auf die Telemedizin etwas von der Politik nach der Bundestagswahl wünschen könnten – was wäre dies? 

Den Digitalisierungskurs weiterhin fortzusetzen. Das Vorantreiben der Digitalisierung des Gesundheitswesens ist eine Errungenschaft dieser Legislaturperiode. Die Regulatorik sollte jedoch Spielräume lassen für Innovationstreiber, auch wenn diese keine klassischen Gesundheitsakteure sind. Neue Wege erfordern eben oft auch neue Akteure. Die Politik muss offenbleiben für digitale Innovationen. Regelungen müssen zum Wohle der Patient:innen und nicht einzelner Stakeholder oder Interessengruppen getroffen werden. Das gilt auch im Bereich E-Rezept. In letzter Zeit haben wir leider eine gegenteilige Tendenz erkennen können.