„Die digitalisierte Zukunft wird die Medizin wieder patientenfokussierter machen“

11.11.2020
Max Tischler, Assistenzarzt Dermatologie und Sprecher des Bündnis Junge Ärzte im Gespräch mit Valentin Willaredt, bvitg-Referent Presse & Kommunikation.

Foto: Privat

Welche Rolle spielt die Digitalisierung schon heute in Ihrem persönlichen Alltag als Arzt?

Mein persönlicher Alltag ist digital geprägt. Nach einer Studie von Deloitte zur Smartphonenutzung 2020 waren 89% aller Bürger im Besitz eines Smartphones, welches 94% täglich nutzen. Digitale Kommunikation über App-Messenger, Buchungen von Tickets und Urlauben per Smartphone und das Banking über eine App gehören zum Alltag.

Der Blick in meinen Alltag als Arzt in einer dermatologischen Großpraxis in Dortmund offenbart ein anderes Bild: Auch wenn zum Beispiel im Rahmen des Hautkrebsvorsorge Digitalisierung, sogar Künstliche Intelligenz (KI) in der Bilderkennung und -auswertung, bereits seit längerem Einzug gehalten hat, handelt es sich hierbei um einzelne Leuchtturmprojekte. Für den Großteil der Krankheitsbilder gibt es kaum digitale Lösungen oder Apps: Die Auswertung eines Krankheitsscores bei Schuppenflechte (PASI) wird auch im Jahr 2020 noch meist mit Zettel und Stift auf einer Papiervorlage, anstatt digital, berechnet.

Ähnliche Leuchtturmprojekte bieten Hersteller von Praxisverwaltungssystemen (PVS) an, die innerhalb des eigenen Praxissystems digital arbeiten können. Eine Weitergabe in ein anderes System oder an einen anderen Behandler ist jedoch nicht möglich und der Patient darf die Aufgabe des Postboten übernehmen.

In der Vergangenheit und zuweilen weiterhin zeigen sich viele Ärztinnen und Ärzte kritisch gegenüber der Digitalisierung, etwa bei der App auf Rezept. Was sind Ihrer Meinung nach hierfür die Gründe?

Eine kritische Auseinandersetzung mit „neuen“ Techniken und Versorgungsarten ist gerade im Gesundheitswesen unerlässlich. Darin unterscheiden sich junge Ärzte nicht von unser etablierten Vorgeneration. Schließlich reden wir nicht über Kunden, sondern über unsere Patienten. Der Schutz und die Sorgfalt im Umgang mit unseren Patienten, aber auch die Wahrung des intimen Arzt-Patienten-Verhältnisses, ist über die Generationen unumstritten.

Als junge Ärztinnen und Ärzte sehen wir Kritik jedoch immer als Aufschlag, Probleme zu identifizieren und in gleichem Atemzug Lösungen aus ärztlicher Sicht zu erarbeiten und anzubieten. Dies vermisse ich häufig im Umgang gerade mit digitalen Themen. Die Gründe sind vielfältig, im Kern aber häufig mit Unwissenheit der Generation der Babyboomer, die in den Gremien großteils vertreten sind, zu erklären. Gerade in der Weiterentwicklung des Gesundheitssystems, der digitalen Transformation, aber auch bei Lösungen zu Bekämpfung des Arzt(zeit)mangels ist eine Einbindung von jüngeren Ärztinnen und Ärzten und Austausch mit der jüngeren Ärztegeneration in etablierten Gremien empfehlenswert. So wird gegenseitige Unwissenheit durch die generationsübergreifende Zusammenarbeit egalisiert.

Was braucht es, damit noch mehr Ärztinnen und Ärzte von digitalen Lösungen überzeugt werden können?

Die Grundvoraussetzung liegt natürlich in einer sinnvollen, zeitsparenden und gesundheitsfördernden Lösung für Ärzte und Patienten. Ein Mehrwert für Patienten und/oder für Ärzte muss vorhanden sein. Hierfür braucht es die aktive Einbindung von Ärztinnen und Ärzten, genauso wie von Patientinnen und Patienten in den Entwicklungsprozess auf Seiten der Hersteller. Gleichzeitig müssen Ärzte wie Patienten hierzu bereit sein und mitarbeiten.

Für die Digitalen Gesundheitsanwendungen (DIGA), welche ganz aktuell auf dem Markt gekommen sind, steht aktuell die Fortbildung der Ärzteschaft im Vordergrund. Die reine Verabschiedung eines Gesetzes durch Bundestag und Bundesrat bedingt nicht gleichzeitig eine erfolgreiche Umsetzung im Alltag. Herstellerseits wurde eine sehr gute Informationspolitik durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und des Health Innovation Hub (HIH) mit dem DIGA Leitfaden und Fortbildungsmaßnahmen für die Hersteller betrieben.

Vergleichbare Angebote auf ärztlicher Seite existierten bisher nicht. Eine erste Fortbildungsreihe wurde vom Hartmannbund, dem Bündnis Junge Ärzte (BJÄ) und dem Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung (SVDGV) im Oktober gestartet. Eine weitere Fortbildung ist für November seitens des HIH geplant.

Darüber hinaus sind Regelungen für die erforderliche Beratung und Betreuung der Patienten im Rahmen der Verschreibung, aber vor allem auch der Weiterbetreuung und Nutzung der Auswertungen von DIGAs nicht konsentiert. Insbesondere sind Abrechnungsziffern im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) noch in Abstimmung. Wünschenswert wäre aus meiner Sicht eine Innovationsförderung auch auf Seiten der Ärzteschaft, welche sich unter anderem durch eine extrabudgetäre Vergütung für alle DIGA-bezogenen Leistungen im Rahmen der Beratung und Betreuung unserer Patienten realisieren lässt.

Wenn Sie einen Blick in eine stärker digitalisierte Zukunft werfen: Wie wird sich der Arbeitsalltag und die Rolle von Ärztinnen und Ärzten verändern – und was bedeutet das für das Arzt-Patienten-Verhältnis?

Die digitalisierte Zukunft wird die Medizin wieder medizinischer und patientenfokussierter machen. Die Digitalisierung muss uns mehr Zeit für die Kernaufgaben des Arztes ermöglichen. Hier steht das Arzt-Patienten-Gespräch und die „sprechende Medizin“ im Vordergrund.

Digitale Tools können Ärztinnen und Ärzte bei Untersuchungen, im Pre-Screening und in der Triage, bei Praxisorganisation und Bürokratie unterstützen. Kurzum, es bleibt mehr Zeit für das Wesentliche und Patienten können besser beraten und betreut werden. Auch eine bessere Datenlage, die nicht nur Untersuchungsbefunde punktuell zu Zeiten des Praxis- oder Klinikbesuchs, sondern longitudinal bieten, können nur zu einer besseren Patientenversorgung beitragen.

Das Arzt-Patienten-Verhältnis wird also der Goldstandard in der Patientenversorgung bleiben. Digitale Ergänzungen werden das Verhältnis zwischen Arzt und Patient aufwerten.

Die Rolle von Ärztinnen und Ärzten wird sich weiterentwickeln: Viel mehr als heutzutage wird der Arzt Berater und gleichzeitig zentraler Partner des Patienten im Gesundheitswesen sein.

 

Dieser Text erschien zuerst in der Ausgabe 05|2020 der E-HEALTH-COM.